Blick auf eine Sitzung während der Anyplace-Konferenz von 1994 in Montréal Photographie: Michel Boulet @ Anyone Corporation Fund, Canadian Centre for Architecture, Montréal

Prof. Dr. Tom Avermaete | Geschichte und Theorie des Städtebaus

Erschliessung der „Kontaktzone”. Zu einer neuen Geschichtsschreibung der Architektur

Dieses Forschungsprojekt hat zum Ziel, eine neue Methode zur Geschichtsschreibung der Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg zu entwickeln, die die Komplexität der Globalisierung und ihren Einfluss auf die gebaute Umwelt widerspiegelt. Das Projekt untersucht einen alternativen historiographischen Ansatz, indem es die Geschichte anhand interkultureller „Kontaktzonen“ strukturiert. Dieser Begriff wurde erstmals von Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt geprägt, die Kontaktzonen als „soziale Räume, in denen Kulturen, oft in sehr asymmetrischen Machtverhältnissen, aufeinandertreffen, zusammenprallen und sich miteinander auseinandersetzen“ definierte. Diese Studie nutzt das Konzept der Kontaktzonen als Grundlage zur Untersuchung von Momenten in Zeit und Raum, in denen ein produktiver Austausch architektonischer Ideen stattfand. Neben Widerständen und Unverständnis entstehen bei diesen Begegnungen, wie Pratt es ausdrückte, „berauschende Momente des Staunens, der Offenbarung, des gegenseitigen Verständnisses und neuer Erkenntnisse“. Langfristiges Ziel ist es, verschiedene Arten des Austauschs in Kontaktzonen der Architekturkultur zu analysieren, zu bewerten und zu einem globalen Schema zusammenzufassen. Eine Geschichte, die sich um architektonische Kontaktzonen wie etwa Konferenzen, Ausstellungen, Bauausstellungen, Sommerkurse, interkulturelle Klassenzimmer, internationale Büros und Nothilfeprogramme dreht, ist eine weitaus dynamischere, integrierendere und genauere Geschichtsschreibung als die herkömmlich-statischen Beschreibungen von Gebäuden, einzelnen Architekten oder unidirektionalen Wissenstransfers.

Im ersten Teil des Forschungsprojekts werde ich eine meta-theoretische Untersuchung solcher „Kontaktzonen“ durchführen und ihre Bedeutung im Bereich der Architektur untersuchen. Ich gehe davon aus, dass ich durch die Zusammenarbeit mit neuen Betreuern und deren jeweiligen Fachgebieten die Kontaktzonenmethodik neben anderen alternativen Arten der Geschichtsschreibung wie Übersetzungsstudien, Migrationsstudien, Verflechtungsgeschichten und vergleichender Stadtplanung einordnen kann. Im zweiten Teil meiner Forschung werde ich mein Wissen über die operativen Aspekte architektonischer Kontaktzonen erweitern. Ich werde zudem untersuchen, wie architektonische Kontaktzonen überhaupt entstehen, wie zugänglich sie sind, wie sie unterhalten werden und wie sie innerhalb lokaler Architekturkulturen funktionieren und Resonanz finden. Darüber hinaus werde ich durch die Analyse der Akteure, Themen und Positionen in Kontaktzonen aus einer bestimmten Perspektive, einer geschlechterspezifischen Perspektive, untersuchen, inwieweit diese Methode auch eine innovative Möglichkeit bietet, Frauen wieder in die Architekturgeschichte einzuschreiben.

Die in diesem Projekt untersuchte historiographische Methode dürfte die Art wie Architekturhistoriker die Verbreitung architektonischer Ideen und deren Auswirkungen auf die gebaute Umwelt begreifen verändern. Die neue Methode ist weitaus genauer als bestehende Darstellungen der Architektur¬moderne und wird zu einer stärkeren Anerkennung der Architektur als interkulturelles, multidisziplinä¬res und von vielen Autoren geprägtes Unterfangen führen, das auch die Beiträge derjenigen würdigen wird, die gemeinhin marginalisiert werden. Gleichzeitig wird dieses Projekt die Geschichtsschreibung in neue Richtungen erweitern.

Kontakt

Dr. Cathelijne Nuijsink

Finanzierung

Die Forschung für dieses Projekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) im Rahmen des För¬dervertrags P500PS_202980 „Unlocking the ,Contact Zone’: Toward a New Historiography of Architecture” finanziert.

Projektzeitraum

Juni 2022 bis Mai 2024 mit einem Aufenthalt am Programm „The History, Theory and Criticism of Architecture and Art” (HTC) am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, Massachusetts, und einem Aufenthalt an der Graduate School of Architecture, Planning and Preservation (GSAPP) an der Columbia University in New York.